Mein Essay zur Krise der Wahrnehmung in: TUMULT. Vierteljahresschrift für Konsensstörung, Sommer 2023
Die Welt scheint vor allem für das Auge geschaffen. Freimütig breitet sie sich vor uns aus und zeigt sich von ihren schönen und schrecklichen Seiten, zeigt sich in allen Schattierungen, in jedem Licht, bei Mondschein, in der Dämmerung, tagsüber und sogar im Nebel.
Die Welt ist sichtbar. Sie liegt uns vor. Auf jedes ihrer Phänomene können wir mit dem Finger deuten. Da, dort, dort drüben.
Und doch halten wir die Welt, so wie sie sich gibt, nicht für wahr. Die Geschichte, in die wir da verstrickt sind, reicht weit zurück. Seit langem schon sind wir nämlich gegenüber dem, was uns die Augen präsentieren, misstrauisch.
Zumal im 16. Jahrhundert wurde die Krise der Wahrnehmung manifest – imm kartesianischen Zweifel, der dadurch ausgezeichnet ist, dass er an allem zweifelt. Die mediale Bilderflut, mit der wir aber heute konfrontiert sind, vertieft diese Krise noch einmal, weil sie uns visuell erschöpft. Schon unter den Zehn- bis Zwölfjährigen nutzen 59 Prozent digitale Medien bis zu zwei Stunden am Tag, 30 Prozent eher zwei bis drei Stunden und 10 Prozent sogar drei bis fünf Stunden. Erwachsene sehen im Schnitt pro Tag zehn Stunden und mehr auf einen Bildschirm. Die Medien auferlegen der globalen Öffentlichkeit ein Blickregime, das Liveness vortäuscht, jedoch Rechenzeit verbraucht – womit jede angebliche Präsentation zur Repräsentation verkümmert.
Was wir dort, auf den Monitoren finden, sind sogenannte Inhalte. Inhalte sind an den Verstand gebunden, denn sie können nicht gesehen, sondern nur verstanden werden – im Licht der Sonne dagegen liegt alles offen zutage, das nur wahrgenommen, nicht gleich gedacht zu werden braucht. Was uns das Display zeigt, ist also nur der bunte Schatten der Dinge. Wir sind in diesem Sinn immer noch Höhlenmenschen, denn wir haben Platons Kino nie verlassen. Wir tragen es jetzt nur mit uns herum.
Dass wir uns von Anfang an dagegen gewehrt haben, dasjenige, welches vor Augen liegt, ernst zu nehmen, wird nun von der Heraufkunft des Deepfakes auf ironische Weise bestätigt: Nichts ist ernst zu nehmen – außer dem Nichts selbst.