Hubert Fichte – Der schwarze Engel

Ein Mensch will frei sein. Sein beispielloses Werk ist beredtes Zeugnis dafür. Es umfaßt die Lebensgeschichte seit der Kindheit. Und es umfaßt drei Kontinente: Europa, Lateinamerika, Afrika. Unter den deutschsprachigen Nachkriegsschriftstellern gibt es keinen kosmopolitischeren als diesen Menschen. Der 1986 verstorbene Hamburger Schriftsteller Hubert Fichte ist eine Ausnahmeerscheinung. Halbjude, Halbwaise, bisexuell und Erforscher der Subkulturen, des Abseitigen und des Exotischen ist er – nach bürgerlichen Maßstäben gerechnet – ein Ausgeschlossener.

Hubert Fichte wird 1935 in Brandenburg geboren. Die Familie zieht nach Hamburg. Der Vater, ein jüdischer Kaufmann, flieht nach Schweden. Nach Kriegsende arbeitet die Mutter als Schauspielerin und Souffleuse an verschiedenen Hamburger Theatern. Fichte wird zum Kinderdarsteller an diversen Bühnen. Für seine Schauspielerkarriere bricht er die Schule ab. Der Stimmbruch wird für ihn zum Karriereknick. Die staatliche
Schauspielprüfung besteht er nicht.

Hubert Fichte. Der schwarze Engel (via TRACKTVLINKS)
Dokumentation, Deutschland © 2005 SWR / S. Fischer Stiftung

Buch + Regie: Thomas Palzer. Kamera: Uli Nissler. Ton: Hans Lienert. Schnitt: Saskia Metten. Redaktion: Martina Zöllner

Fichte orientiert sich neu. Es entstehen erste Erzählungen, Texte für den Rundfunk sowie ein Theaterstück. Nach Ausflügen in die Provence, in die Landwirtschaft und nach Schweden, lernt Fichte 1961 seine spätere Lebensgefährtin kennen, die Fotografin Leonore Mau. Ihr Abkommen lautet: Er will sie berühmt machen, sie soll ihn berühmt machen. Zum Marcel Proust der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Fichte erforscht den Kiez. Er interviewt Sandra, die Prostituierte, Johnny, den Stricher, Wolli Indienfahrer, Besitzer einer Etage im Palais d’Amour auf St. Pauli, die er Mädchenwohnheim nennt, und Gunda, eine 26jährige lesbische Prostituierte. 1968 beginnt Fichte mit der Erkundung der afroamerikanischen Welt, ihrer Religionen und ihres Synkretismus zwischen Tradition, Magie und moderner Plastikkultur. Er ist fasziniert von Veränderung und Erweiterung des menschlichen Bewußtseins und von kulturellen Praktiken wie Kräuterabsude und Trance, die eine solche Veränderung bewerkstelligen.

Wie bei keinem anderen Autor sind bei Fichte Biographie und Werkgeschichte miteinander verschränkt. Vom Erzählungsband Aufbruch nach Turku über die Palette und den Versuch über die Pubertät bis zur neunzehnbändigen Geschichte der Empfindlichkeit deckt sich der Schreibprozeß mit den Reisen, die der Autor zusammen mit der Lebensgefährtin und Fotografin Leonore Mau unternommen hat:
nach Portugal, Griechenland, Marokko, Brasilien, Haiti, in die USA, nach Tansania, Senegal und Togo. Alles Schreiben, sagt Fichte, sei Hinwendung zur Welt.

1982 kehrt Fichte von seiner dritten Brasilienreise zurück. Der Hamburger Hauptbahnhof – zentrales Ziel der Exkursionen des Autors in die Gegen- und Stricherwelt – ist umgebaut. Die Stricher sind weg. Erste Meldungen von Aids erreichen die Öffentlichkeit. Düstere Hinweise darauf, daß eine ganze Welt vor dem Untergang steht.

1986 stirbt Hubert Fichte an Lymphdrüsenkrebs, vermutlich eine Folge der Immunschwäche Aids. Bis zuletzt arbeitet er an der Vollendung der Geschichte der Empfindlichkeit.

In dem Film kommen – natürlich neben Fichte selbst – noch einmal all die zu Wort, die Fichte gekannt oder die mit ihm gearbeitet haben, die seine Freunde waren oder die teilnehmenden bzw. skeptischen Beobachter seiner Karriere, seine Lieben, seine Lektoren, seine Interviewpartner oder seine Konkurrenten – und seine Bewunderer: Fritz J. Raddatz, Peter Rühmkorf, Hermann Peter Piwitt, Peggy Parnaß, Serge Fiorio, Leonore Mau, Wolfgang von Wangenheim, Peter Laemmle, Manon Griesebach, Thomas Meinecke uva.

 

Heute, fast 20 Jahre nach Fichtes Tod, ist sein literarisches Werk fast in Vergessenheit geraten. Thomas Palzers Porträt Hubert Fichte: Der schwarze Engel zeigt, dass eine Beschäftigung mit Fichte ein spannendes Panorama an Facetten und Gegensätzen eröffnet. Offenbar hat jeder, der hier zu Wort kommt, Fichte und seine Literatur aus einer anderen Warte kennen gelernt … In der Literatur wollte der Autor die Devise verfolgen, “das Inkohärente stehen zu lassen”, nicht viel anders hält es auch der Filmautor, der sich im Kommentar zurück hält, nichts glatt bügelt und auch auf den Anspruch der Vollständigkeit verzichtet. Am Ende steht das Bild eines Menschen, der seine ureigenen Widersprüche erst in der Literatur aufzuheben wusste.

Lasse Ole Hempel am 4. April 2005 in der
Frankfurter Rundschau