In diesem Herbst kommt allerhand zusammen: Volker Neumann, der Chef der Frankfurter Buchmesse, setzt mehr denn je auf den Event und die Anbindung des Buches an Film und Fernsehen. Im Schwerpunktthema Russland wird das intermediale Rezept gleich umgesetzt. Pünktlich zur Messe hat die S. Fischer Stiftung ihr erstes Projekt entwickelt: Unter dem Titel „Russland lesen“ erscheint im Fischer Taschenbuch Verlag eine Kassette mit klassischen Texten der russischen Literatur. Parallel dazu wurde im Auftrag der Stiftung eine dreiteilige Fernsehserie produziert, die im Herbst über die dritten Programme mehrerer Anstalten ausgestrahlt wird.
Der Film von Thomas Palzer bietet bestes Bildungsfernsehen, ausgestrahlt zu später Stunde. Rare Bilddokumente aus russischen Archiven sind zu sehen, die bis zu den Puschkin-Feiern des Jahres 1880 reichen. Lobenswert ist auch die von Swetlana Geier herausgegebene Kassette (sechs Bände, 39,90 Euro), obgleich sie, außer einer von Ulrich Schmid besorgten Anthologie russischer Lyrik, keine neuen Titel enthält, sondern Lizenzausgaben anderer Verlage: Erzählungen von Puschkin, Gogol und Tolstoj, neben Dostojewskijs „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ und einer nützlichen Sammlung von Programmschriften zur russischen Literatur, die Geier bereits im Puschkin-Jahr 1999 publiziert hatte.
„Wir kommen alle aus Gogols Mantel“, hatte Dostojewskij bekannt, in der prophetischen Überzeugung, dass dieser Mantel zuvor von Puschkin getragen wurde und danach alle künftigen Generationen der russischen Literatur bekleiden sollte. In diesem Sinne präsentieren Fernsehserie und Kassette die Geschichte der russischen Literatur als einen Stafettenlauf von Prophet zu Prophet, bis zur Rückkehr des letzten Propheten – Alexander Solschenizyn – in sein Heimatland, wo ihn keiner mehr hören will. Nur in der Kassette kommt die Gegenwart, von Lyrik abgesehen, ein wenig zu kurz, vielleicht aufgrund fehlender Lizenzvergaben.
Im Medienverbund wurde die S. Fischer Stiftung allerdings von den Tücken des „cross-promotion“ eingeholt. In dem geschmackvoll gestalteten Begleitheft – im Geleitwort lobt Christina Weiss den Versuch, „die Kraft von Büchern mit der Macht des Fernsehens zu koppeln“ – taucht gleich zweimal der Name von Natalja Ginzburg auf: Die Grand Dame der italienischen Literatur, deren Ehemann, der Slawist Leone Ginzburg, im Jahr 1944 in faschistischer Kerkerhaft ermordet wurde, steht da als Vertreterin der russischen Dichtung zwischen Anna Achmatowa und Marina Zwetajewa, und neben Ossip Mandelstam und Isaak Babel wird sie zu einem Opfer des Stalinismus erklärt. Statt des Medienverbundes wäre der Stiftung zu wünschen, sich künftig stärker auf ihr Kerngeschäft, die Realisation schwieriger und hoffnungsloser editorischer Projekte – zum Beispiel die Kritischen Ausgaben der Werke Hugo von Hofmannsthals und Thomas Manns –, zu konzentrieren und die Kooperation – mit der „Stiftung Lesen“ zu suchen. Und mit dem Lesen gleich im eigenen Haus anfangen: Zum Beispiel in den Lizenzausgaben der Werke von Natalia Ginzburg oder in Maja Pflugs dort 1999 erschienener Biographie.
Volker Breidecker am 17. 09. 2003 in der Süddeutschen Zeitung