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Die Logik war der Glaube der Griechen. Die heutige Wissenschaft hat diesen Glauben beerbt, von daher tragen ihre einzelnen Disziplinen die Logik im Namen: Theo-logie, Bio-logie, Anthropo-logie. Es gibt daneben Kulturen, die an etwas anderes glauben oder geglaubt haben. Die Wirklichkeit ist ja – anders als man meint – gerade nicht gleichbedeutend mit dem Raum von Gründen, den die Logik stiftet. Alles, behauptet die Logik, habe seinen Grund. Aber die Liebe hat keinen Grund, ebenso die Kunst. Liebe und Kunst haben keinen Grund, sie liefern Gründe.
Wirklichkeit geht nicht in einem Rationalitätskontinuum auf, ansonsten sie ja mit der Wissenschaft homo-log wäre. Das ist ersichtlich nicht der Fall. Immerhin hat der Satz vom Grund (auf dem Logik beruht) selbst keinen Grund. Wirklichkeit besteht vielmehr aus Diskontinuitäten, aus Falten,
Wir, als konkrete lebende Wesen, sehen abends einen flammenden Sonnenuntergang. Der Physiker, der seltsamerweise nur das für wirklich und wahr hält, was er nicht sehen kann, erkennt im entflammten Sonnenuntergang nur ein Gewimmel von Atomen und elektronischen Ladungen. Darum nennen wir ihn einen Reduktionisten. Er nimmt von der Wirklichkeit etwas weg. Farben, Gerüche, Träume und Gedanken gibt es für ihn nicht. Er hält sie für Halluzinationen, für Produkte des Gehirns. Künstler, Dichter und Philosophen dagegen fügen der Wirklichkeit etwas hinzu.
Wirklichkeit ist abgründig, denn etwas ist immer äh?twas. Europa hat sich seit Beginn der Neuzeit zum Sklaven einer Rationalitätsfiktion gemacht – die sich von daher als Zivilisation bezeichnet, alle anderen aber als Naturvölker. Naturvölker haben kein Wort für Zivilisation; gleichwohl haben sie naturgemäß die Sache: Sie sind zivilisiert. Tiere und Pflanzen bilden ebenfalls Zivilisationen (im Sinn von Ordnungen) aus, auch wenn sie naturgemäß kein Wort dafür haben. Und die Infrastruktur, die jede Technik ausbildet (Autos brauchen Autobahnen, Netzwerke Strom usw.), hat keinen anderen Sinn als den, eine Welt spezifisch zu ordnen.
Entgegen dem westlichen Konzept, das die Welt manichäisch in Kultur und Natur aufteilt, gibt es Kulturen, von denen, wie der französische Ethnologe (Ethno-loge) Philippe Descola sagt, die
Organismen, die Werkzeuge, die Artefakte, die Gottheiten, die Geister, die Pflanzen und Tiere, die technischen Verfahren usw. nicht mehr einfach nur als Umfeld begriffen werden – als Ressourcen und Minen, die sich ausbeuten und nutzen lassen (TP) -, sondern als gleich berechtigte Akteure, die in gegebenen Situationen mit den Menschen agieren.
Wenn Feuer Papier verbrennt, kommuniziert es mit der Entflammbarkeit des Materials. Mit seiner Beschreibbarkeit oder Knitterbarkeit kommt Feuer dagegen gewöhnlich nicht in Kontakt. Dafür fehlt es ihm an dem entsprechenden Sensorium. Wir kommunizieren mit Papier über seine Beschreib- oder Faltbarkeit bzw. seinen ausgeprägten Hang zum Knittern. Phänomene wie Feuer, Papier, Aufzüge, Hasen oder Blumenwiesen zeigen sich uns folglich immer nur von einer bestimmten Seiten – ihrer biologischen, sensuellen, nützlichen, abstrakten, quantitativen usw. Was sie vollständig sind, zeigen uns die Phänomene nie. Nie zeigen sie sich von allen Seiten zugleich. Sie verschwinden hinter dem, was sie uns zeigen.
Die Wirklichkeit liebt es, nicht beobachtet zu werden. Sie ist scheu. Nicht nur die Bäume, auch der Rest der Wirklichkeit führt ein geheimes Leben. Wir sehen von der Wirklichkeit immer nur den Teil, der über der Oberfläche liegt. Den größten Teil bekommen wir wie bei einem Eisberg nie zu Gesicht. Es ist sogar so, dass der Eisberg unter der Wasseroberfläche im gleichen Maß wächst, wie wir von ihm oberhalb des Wasserspiegels mehr zu Gesicht bekommen. Mit jeder Bestimmung wächst das Halo der Unbestimmtheit. Das nennen wir die Bifurkation der Wirklichkeit.
Der britische Astrophysiker Arthur Stanley Eddington ist für folgende Parabel berühmt:
Ich will mit der Niederschrift dieser Vorträge beginnen und rücke meine Stühle an meine beiden Tische. Zwei Tische? Ja, denn jeder Gegenstand meiner Umgebung hat einen Doppelgänger – also zwei Tische, zwei Stühle, zwei Federn.
Es geht also um den vertrauten Tisch des Alltags auf der einen Seite und um den Tisch der Physik auf der anderen, um den uns vertrauten flammenden Sonnenuntergang und um den entflammten der Physik. Es geht um den Hasen der Biologie und um den uns vertrauten Hasen, z. B. den sogenannten falschen. Aber wie sieht der Hase für den Baum aus? Und wie für die Sonne? Denn sowohl mit der Sonne wie mit dem Baum tritt der Hase offensichtlich in Kontakt oder kann zumindest mit beiden in Kontakt treten – etwa, wenn er über eine Baum bestandene Wiese hoppelt. Wie sieht dieser dritte Hase aus, die eine weitere Seite von unendlich vielen an ihm ist. Wie kommunizieren Strömung und Fisch? Strömung und Sonnenstrahl? Der spekulative Metaphysiker Graham Harman ist in seinem Essay Der dritte Tisch für die dOCUMENTA(13) ausführlicher darauf eingegangen (100 Notizen – 100 Gedanken No. 085).
Die Welt darf nicht mit der uns bekannten und von uns erkannten Welt gleich gesetzt werden. Die Welt ist größer, viel größer als das, was wir für die Welt halten. Wer das historisch erworbene Selbstverständnis des Menschen zugunsten einer ihm äußerlichen Beschreibungsweise, wie es die Bio-logie tut, auflöst, der ist Reduktionist. Wir – Künstler, Philosophen, Dichter – fügen zu der Welt etwas hinzu. Der wirkliche Tisch und der wirkliche Hase und der wirkliche Baum sind keine Sache der Physik, der Chemie oder des Alltags. Es sind keine Sachen der Logik, aber auch keine der Sinnlichkeit, also des Geruchs, Aussehens usw. Eher sind Sachen wie der Hase oder eine Alu-Leiter Sachen für die Kunst. Die Kunst öffnet den Raum, in dem der dritte Hase gezeigt wird – jener Hase, der dem tatsächlichen weitere Seiten hinzufügt.
Die Wirklichkeit ist ein dicht gewobenes Netzwerk. Alles steht miteinander in Kontakt, nur nicht jeder mit jedem und allem. Wir stehen zu Phänomen wie dem Papier in Relation. Wenn wir die Augen schließen, ist das Papier weg. Ebenso wenn wir schlafen. Tatsächlich bleibt es auf dem Tisch. Wo ist das wirkliche Papier? Alle Seiten, die ihm zukommen, sind jedenfalls nicht in der Welt der Tatsachen versammelt. Um es mit einem verpönten Wort zu sagen: Seine Substanz entzieht sich uns. Es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen Relation und Realität. Die Kunst erklärt dem toten Hasen den richtigen.
Erweiterte Fassung eines Textes, der zuerst als Handzettel erschien für die Ausstellung Echo of Untouched Matter (15. Januar – 20. März 2016) in der Lothringer 13 Halle in München (Kurator:Jörg Koopmann).
https://www.thomaspalzer.de/4865-2/
Deleuze, Gilles Die Falte. Frankfurt am Main 1995: Suhrkamp
Harman, Graham Vierfaches Objekt. Berlin 2015: Merve
ders. Die Rache der Oberfläche. Heidegger, McLuhan, Greenberg. Köln 2015: Walther König
Heidegger, Martin Der Ursprung des Kunstwerkes in: Holzwege. Frankfurt am Main 2003: Vittorio Klostermann
Whitehead, A. N. Prozesss und Realität. Entwurf einer Kosmologie. Frankfurt am Main 1987: Suhrkamp