Nachdem in den letzten Jahren der Begriff Kultur vollkommen entleert worden ist, weil er von der Eßkultur bis zur Badezimmer-Kultur alles umfasst, was überhaupt Artefakt ist, also nicht im Sinne der physis natürlich gewachsen, bietet sich ein Programmplatz mit Namen Kultur an, um Literatur und anderes darin unbemerkt aufgehen zu lassen, d. h. abzuschaffen. Tatsächlich gibt es im neuen Sendeschema den Programmplatz Literatur nicht mehr!
Man wird vermutlich entgegnen: Aber dafür sei die Kultur da. Doch das ist ein Kategorienfehler. Literatur ist keine Teilmenge der Kultur (zu der ja auch Kunst & Krempel gezählt wird, das Bemalen von Handtaschen und Keramiktassen und das Häkeln von Topflappen). Kultur liegt vor, Literatur deutet sie. Literatur übt in die Technik des Deutens ein, die zu den wichtigsten Kulturtechniken überhaupt gehört.
Das Bayerische Fernsehen will zum Beispiel ein sogenanntes Informationsdirektorium einführen oder hat es bereits. Viele glauben, Informationen kämen in der Welt vor wie Atome. Aber Informationen müssen zuvor gedeutet worden sein, bevor sie Informationen werden – denn alle Infos besitzen eine syntaktische Struktur. Im Kern ist jede Information ein Urteil. Deuten steckt ja in Bedeutung, und dass Informationen Bedeutung haben, dafür spricht ja die Einrichtung eines Informationsdirektoriums. Deshalb aber geht die LITERATUR der INFORMATION immer voraus! Was wir im Informationsdirektorium erwarten müssten, säßen dort Leute, die mehr lesen als Informationen der Art 30 Prozent der Jugendlichen unter 19 trinken Sonntags ein Glas Milch, wäre keine Info-Elite, sondern Menschen, die belesen sind.
Neben der Kultur (und der Abschaffung der Literatur) soll es einen eigenen Programmplatz für Philosophie und Ethik geben. Das ist begrüßenswert, denn Philosophie ist ja hilfreich, wenn es darum geht, dass nicht Fehlinvestitionen in Millionen- oder gar Milliardenhöhe geschehen, bloss weil ein Wort falsch verstanden worden ist. Oder dass Fehlentscheidungen getroffen werden wie eben jene, die Literatur abschafft, weil man sie für Kultur hält (im Sinne des Mediums).
Literatur besitzt keinen eigenen Platz mehr im Programm des Bayerischen Fernsehens. Das muss ein paarmal wiederholt werden, um sich bewusst zu werden, was das wirklich bedeutet. Es entspricht natürlich der öffentlichen Wahrnehmung, die sich nur noch mit Politik, Wirtschaft und Sport zu beschäftigen scheint. Die Gründe dafür müssen an anderer Stelle belichtet werden.
In Wahrheit ist Literatur eine Kunst des Deutens – und darum eine Kategorie eigenen Rechts, die keine Teilmenge sein kann – erst recht nicht Teilmenge einer nur noch in homöopathischen Dosen vorhandenen Kultur. Es ist die Literatur, die Europa eine Identität stiftet: nämlich die europäische Phantasie.
Deuten ist kulturelle Kompetenz schlechthin. Denn auch die Praxis der Welt besteht in nichts anderem als in der Kunst, Zeichen zu entschlüsseln.